EU-Kennzeichnungschaos erreicht bereits Supermärkte
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Eine Packung Kirschtomaten aus einem französischen Supermarkt veranschaulicht die Verwirrung, die durch einen Vorstoß der Europäischen Kommission ausgelöst wurde. Diese hatte überstürzt versucht, die EU-Verbraucher- und Handelsvorschriften zu Recht zu biegen, um sie an die Territorial-Ansprüche Marokkos auf die besetzte Westsahara anzupassen.

17. November 2025

Die Packung, die am 13. November 2025 in einem Lidl-Supermarkt in der Region-Rhône Alp, Frankreich, fotografiert wurde, gibt als Herkunftsort der Kirschtomaten „Dakhla-Oued Eddahab“ an – eine marokkanische Verwaltungsregion, die von Rabat auf dem Gebiet der besetzten Westsahara geschaffen wurde, nachdem es das Gebiet 1975 illegal annektiert hatte.

Nach geltendem EU-Recht müssen Produkte, die aus diesem Gebiet stammen, jedoch weiterhin mit „Westsahara” gekennzeichnet werden. Der Europäische Gerichtshof (EuGH) hat wiederholt bestätigt, dass die Westsahara ein von Marokko „gesondertes und unterschiedliches“ Gebiet ist und dass EU-Abkommen mit Marokko ohne die Zustimmung der Volkes der Westsahara für diese nicht gelten können. Dies hat auch Auswirkungen darauf, wie die Herkunft angegeben werden muss: Produkte aus diesem Gebiet dürfen nicht als marokkanisch gekennzeichnet werden, urteilte der Gerichtshof.

Wie kam es also zu dieser seltsamen Fehlkennzeichnung?

Am 4. Oktober 2024 hat der EuGH das Handelsabkommen zwischen der EU und Marokko erneut für nichtig erklärt, soweit es die Westsahara betrifft, und festgestellt, dass es das Selbstbestimmungsrecht des sahrauischen Volkes verletzt. Der Gerichtshof ließ zu, dass das Abkommen vorläufig für ein Jahr, bis zum 4. Oktober 2025, in Kraft bleibt, um den EU-Institutionen Zeit zu geben, die Praxis mit dem Recht in Einklang zu bringen.

Anstatt die Zustimmung des Volkes der Westsahara zu einer Vereinbarung über den Handel mit ihrem besetzten Heimatland einzuholen, entschied sich die EU-Kommission dafür, eine der Alten ähnliche Vereinbarung mit Marokko neu zu verhandeln, und zwar in einer höchst ungewöhnlichen Eile: Die Änderung wurde angeblich innerhalb von vier Tagen im September 2025 ausgehandelt.

Während zehn Urteile des EuGH keinen Zweifel daran lassen, dass die Westsahara nicht zu Marokko gehört und dass Produkte aus diesem Gebiet entsprechend behandelt werden müssen, akzeptiert das neue Abkommen der EU die Ersetzung des Begriffs „Herkunftsland“ durch den Begriff „Herkunftsregion“, wenn Waren aus der Westsahara stammen – insbesondere aus den beiden Verwaltungsbezirken, die Marokko dem Gebiet auferlegt hat: Laâyoune-Sakia El Hamra und Dakhla-Oued Eddahab.

Diese Bezeichnungen wurden vom Assoziationsrat EU-Marokko in seinem Beschluss Nr. 2/2025 vom 3. Oktober 2025 festgelegt, welcher vorschreibt, dass sie in Ursprungszeugnissen und Ursprungserklärungen zu verwenden sind. Abgeordnetes des Ausschusses für internationalen Handel des Europäischen Parlaments haben bereits ihre Besorgnis zum Ausdruck gebracht über das, was sie als bewussten Versuch bezeichnen, den rechtlichen Status des Gebiets zu umgehen.

Laut der Mitteilung der Kommission an die Wirtschaftsbeteiligten, die am 16. Oktober 2025 veröffentlicht wurde, gilt das neue System erst nach Inkrafttreten der neu vorgeschlagenen delegierten Verordnung, danach gilt es rückwirkend. Bis zu diesem Zeitpunkt bleiben die aktuellen EU-Vermarktungsnormen uneingeschränkt gültig, d. h. der Ursprung muss weiterhin mit „Westsahara“ gekennzeichnet werden.

In derselben Mitteilung wird den Wirtschaftsbeteiligten auch mitgeteilt, dass bereits mit „Westsahara“ gekennzeichnete Bestände bis zur Erschöpfung weiter verkauft werden dürfen. Es gibt jedoch keine klare Anweisung, dass die marokkanischen Regionalbezeichnungen noch nicht verwendet werden dürfen. Dies hat nun zu falschen Kennzeichnungen in französischen Regalen geführt, was die praktischen Folgen der Entscheidung der Kommission verdeutlicht, eine politisch heikle Änderung ohne rechtliche Klarheit und vor Abschluss des Regelungsprozesses voranzutreiben. Das Ergebnis ist Unsicherheit für Verbraucher:innen, Händler:innen und Behörden – wobei die Beteiligten gegen EU-Recht verstoßen, ohne sich dessen überhaupt bewusst zu sein.

Diese Verwirrung ist kein trivialer Verwaltungsfehler. Sie resultiert direkt aus der Entscheidung der Kommission, eine politisch motivierte und rechtlich fragwürdige Änderung der EU-Vorschriften zur Herkunftskennzeichnung durchzudrücken.

Änderung eines allgemeinen EU-Gesetzes für eine politische Ausnahme

Aber es wird noch undurchsichtiger. Um ihren neuen Kennzeichnungsansatz für Produkte aus der Westsahara umzusetzen, will die Kommission die Delegierte Verordnung (EU) 2023/2429 ändern – eine allgemeine Verordnung, die Vermarktungsnormen für alle Obst- und Gemüsesorten in der EU und im Handel mit Drittländern festlegt.

Diese Verordnung, die seit dem 1. Januar 2025 in Kraft ist, sollte die Vorschriften vereinfachen, Verbraucherinformation verbessern und Lebensmittelabfälle reduzieren. Anstatt diesen einheitlichen Rahmen zu schützen, schafft die Kommission nun eine Ausnahme für den ganz besonderen Fall der besetzten Westsahara und beugt sich damit den nicht haltbaren territorialen Ansprüchen Marokkos.

Dies ist ein außergewöhnlicher Schritt: Anstatt die etablierte geografische Nomenklatur der EU anzuwenden, versucht die Kommission, die Verwaltungsgliederung Marokkos für ein besetztes Gebiet in das allgemeine EU-Recht aufzunehmen, was im Widerspruch zu einem Jahrzehnt der Rechtsprechung des EuGH steht, in der bestätigt wurde, dass die Westsahara und Marokko gesonderte und unterschiedliche Gebiete sind.

„Wenn die EU nun bereit ist, allgemeine Rechtsvorschriften umzuschreiben, um den Präferenzen einer Besatzungsmacht in der Westsahara gerecht zu werden, was hindert sie dann daran, dasselbe für die Krim oder für die palästinensischen Gebiete zu tun, die Israel als Judäa und Samaria bezeichnet?“, fragt Sara Eyckmans von Western Sahara Resource Watch.

Die Angelegenheit steht nun offiziell auf der Tagesordnung des Agrarausschusses des Europäischen Parlaments am Donnerstag, dem 20. November, wo die Abgeordneten über den von der Kommission vorgeschlagenen Änderungsantrag zur Verordnung über Vermarktungsnormen diskutieren werden. Die in Frankreich beobachtete falsche Kennzeichnung zeigt, dass der Ansatz der Kommission bereits praktische und rechtliche Probleme verursacht, noch bevor der Vorschlag überhaupt angenommen wurde.

Diese Tomatenverpackung, die im November 2025 in Frankreich fotografiert wurde, enthält falsche Angaben zum Herkunftsort. Das Importunternehmen ist die Groupe Anima über ihre Tochtergesellschaft Sofruce.


 

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